„Emotionale Gleichgewichtsstörung – Kleine Philosophie für verrückte Zeiten“ von Jürgen Wiebicke ist wie eine philosophische Umarmung. Wer seine „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“ gelesen hat,
wird es wohl auch als Heranzoomen, als Antwort auf die Frage nach der eigenen inneren Verfasstheit lesen.
In seiner gewohnt zugewandten und menschenfreundlichen Art regt der durch „Das philosophische Radio“ (WDR5) bekannte Journalist zu einer anderen Art des Betrachtens und Denkens an. Denn die
Philosophie vergangener Jahrhunderte kann uns helfen, uns mit jenen Krisen („Krise bedeutet im Wortsinne: Entscheidung.“, schreibt Wiebicke.) zurechtzufinden, die uns heute von Kriegen über die
Folgen der Pandemie bis hin zum Klimawandel fordern.
Die Demokratie als Gemeinschaftsprojekt. Ein Gemeinschaftsprojekt, das sich aus Einzelnen – uns – zusammensetzt. Raus aus Ohnmacht und „bequemer Opferhaltung“. Dass die Lage komplex
ist, sollte uns nicht dazu verleiten, uns die großen Fragen unserer Zeit gar nicht erst zu stellen.
Wie stehen Freiheit und Verantwortung zueinander?
Welche Rolle nimmt der Kapitalismus der Demokratie, ja unseren Lebensgrundlagen gegenüber ein?
Wie gehen wir mit unseren Ängsten um, wie finden wir – jetzt erst recht! – zu Lebensfreude und Zuversicht?
Kaum ein Aspekt, der nicht Beachtung fände. Überfrachtet ist das Buch indes nicht, mitnichten. Denn „Emotionale Gleichgewichtsstörung“ hat nicht die Verkopftheit eines dozierenden Sachbuchs,
sondern die Anmutung einer herzlichen, wenn auch unaufdringlichen Einladung mit einer Note von Weckruf.
Warum nicht einsehen, „wie angewiesen wir auf andere sind, um die Beschränktheit unserer Perspektive auf die Welt zu überwinden“ (Sokrates)? Warum nicht existenzialistisch denken, also uns
beispielsweise frei machen von den Urteilen und Erwartungen der anderen (Jean-Paul Sartre)? Dabei erfahren wir dann vielleicht, dass wir stets neue Anfänge machen können (Hannah Arendt). Wir
üben, Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten, („Ambiguitätstoleranz“, Thomas Bauer). Wir werden aktiv im Kleinen und tun es Michel de Montaigne „mit einer gewissen Lässigkeit und
Selbstironie“ gleich, indem wir ein gelegentliches „Was weiß ich denn?“ aussprechen.
Sicher scheint: Auf die Einzelnen wird es ankommen, denn „Wenige bewirken viel“. Im gleichnamigen Kapitel schreibt Wiebicke dazu:
Eine aktive Zivilgesellschaft ist gewissermaßen das Immunsystem der Demokratie, weil sie dem so gefährlichen, für Populismus anfällig machenden Verdruss entgegenwirkt, man könne als Einzelner
doch sowieso nichts tun, weil »die da oben« viel zu mächtig seien.
„Diese Philosophie ist keine „kleine“, wie es der Buchtitel ankündigt. Sie ist eine kompakte, geerdete, pragmatische. Großartig. Uneingeschränkte Empfehlung nicht nur als Lese-, sondern auch als
Gesprächsstoff!“
Buchtitel: Emotionale Gleichgewichtsstörung
Autor: Jürgen Wiebicke
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Preis: € 20,00
ISBN: 978-3-46200-540-0
Gelesen und empfohlen von: Anke Johannsen