Schwierige Verhältnisse im Kopenhagen der 1920er und 30er Jahre
An diesen autobiografischen Romanen der dänischen Autorin Tove Ditlevsen ist alles klar und gestochen scharf. Zum Beispiel Ihre Beobachtungen der schwierigen Verhältnisse im Arbeitermilieu: die Rolle der Männer und die Rollen der Frauen, die Armut und ihre Auswirkungen, die Ungleichheit, die Hoffnung, die Verzweiflung und die (falschen) Tröstungen. Die Sprache, in der Ditlevsen in den 1940er Jahren ihre Erinnerungen verfasst, ist so klar und präzise, dass man beim Lesen mit ihr verschmilzt.
Es ist dem Mädchen, das heimlich Gedichte schreibt, schon sehr früh klar, dass ihre Träume und Begabungen anders sind, dass sie nicht in dieses Milieu passt. Der raue Alltag, der sich nach Bücher sehnenden Tove, die mit 14 Jahren die Schule verlässt, findet sich ohne Larmoyanz in wunderbar geschliffenen Sätzen wieder.
Heute erscheint es unverständlich, dass diese außerordentlichen Texte bisher noch nicht übersetzt wurden. Diejenigen, die die große französische Autorin Annie Ernaux und deren Erinnerungen kennen, werden hier deren stilistische Vorgängerin finden.
Eine Frau von Jahrgang 1917 hatte es überall schwer, als Dichterin Gehör zu finden. Der Werdegang Ditlevsens vom Dienstmädchen zur Bürogehilfin bis zur Autorin war sehr steinig und hat sie sehr gezeichnet (gestorben ist sie 1976). Liest man ihre kurze Biografie, bleibt man betrübt zurück; liest man ihre Bücher, gerät man ins Schwärmen.
Buchtitel: Kindheit
AutorIn: Tove Ditlevsen
Verlag: Aufbau
Preis: € 18,00
ISBN: 978-3-351-03869-4
Gelesen und empfohlen von: Elisabeth Evertz